Herbst.
Die Blätter fallen; wie schon der große Dichter Rilke in einem seiner wunderbaren Gedichte treffend bemerkte.
Nun ja, andererseits, was sollen Blätter auch sonst machen?
Sicher, sie könnten an ihren angestammten, im Frühling als blühende Knospen besiedelten, im Sommer als hellgrüne Blätter endgültig bezogenen, Plätzen sitzen bleiben. Sich gegen das Altern sperren.
Vielleicht eine Revolution beginnen, die den Nadeln ihre winterliche Vorherrschaft als bevorzugtes Winterkleid von Bäumen streitig macht.
Doch dazu sind herbstliche Laubbäume ein zu friedliches Volk.
Ein friedliches Volk von Einzelgängern, die sich nur vereinzelt in kleinen Gruppen oder Cliquen zusammenfinden.
Da gibt es die Rotblättrigen, die Feinadrigen oder die kleine, aber hoch geschätzte Gemeinschaft der Flachstieligen, um nur ein paar zu nennen.
Eigentlich gehört jedoch jedes dieser blattartigen Individuen gleichzeitig in mindestens dreißig dieser feinen Gruppierungen, was wiederum den Zusammenhalt schwächt. Dieser ist aber bekanntlich eine unabdingbare Notwendigkeit in politischen Fragen, und als solche müsste man eine Rebellion ja wohl ansehen.
Somit bleibt den Blättern also dieser Weg der Selbstverwirklichung versagt und ihnen bleibt nichts anderes übrig, als den einen anderen, den Rilke'schen Weg einzuschlagen. Zu Fallen.
Das Fallen selbst ist ein schwieriger, harter und auch unangenehmer Prozess. Auf keinen Fall zu vergleichen mit dem romantischen Fallen, diesem sanften Schweben, sondern vielmehr ein Sturz aus großer Höhe. Eine Höhe, die man mühsam erreicht, sich den guten Platz gesichert hat, um von oben auf andere blicken zu können, die einen anderen Weg genommen haben; die unten geblieben sind, Höhenangst verspürend, die unteren Ebenen besiedelten. Nie verspüren sie diese Einmaligkeit der Höhe, Höhenluft, Luftschlösser.
Deswegen tut ihr Fallen auch nicht so weh. Ist eher vorbei, manchmal bevor es begonnen hat; geht direkt nach unten, fällt auf den Boden. Wird nicht erfasst vom Wind und wieder nach oben getrieben, in die Höhe, weil hat ja Angst und gibt so schneller auf als andere fallen.
Sich statt dessen weit oben vom Ast lösen, als einer der Letzten, um auch noch den allerletzten Sonnenstrahlen näher zu sein und nicht frieren, wenn das Eis kommt, mit der Kälte und dem Schnee und alle anderen schon gefallen sind und so für Einsamkeit gesorgt haben.
Dann fallen – endlich – ganz tief.
Sich klein machen, so dass die Kälte einen nicht sieht und spürt und man so dem eisigen Kuss entgeht, der einen sonst erfrieren lässt.
Fallen und sich verabschieden; von der Höhe, der Wärme, dem Licht. Ein einfaches „Tschüss“ oder „Leb wohl“ oder „Mach’s gut“, kein „Auf Wiedersehen“ oder „Bis bald“ oder „Wir sehen uns“.
Sah die Rinde schon immer so wurmzerfressen aus? Fehlt da nicht ein kleiner Zweig? Vielleicht das Werk eines unvorsichtigen Vogels - auf keinen Fall absichtlich.
Fallen und die Augen schließen, weil der kalte Wind in ihnen brennt und die Tränen gefriert. Fallen und warten auf die vom Dichter versprochene Hand, die einen sanft auffängt, wenn man landet, am Boden ankommt, sonst hart aufprallt, sich verletzt, blutet, zerreißt.
Doch die Hand ist nicht da, ist zur Faust geballt und so andersweit beschäftigt. Sie streckt einen Finger aus. Den Zeigefinger, um zu belehren, den Mittelfinger, um aufzufallen, den Ringfinger, um zu binden. Und den Daumen, den Daumen nach oben gereckt, um zu grüßen; eine Hand, die grüßt. Eine andere heilt. Und da sind noch mehr! Sie nähen und halten und schreiben und zittern; kochen und malen und spielen und frieren.
So viele Hände, doch alle sind beschäftigt, und so falle ich nach unten, immer weiter, begleitet von dem tüchtigen Treiben von Milliarden von Händen. Kennt denn keine von ihnen ihre von Rilke zugedachte Aufgabe?
Glauben sie gar, dass es eine solche Hand gar nicht gibt oder nur im Märchen oder Gedichten, die ja mit Märchen eng verwandt, zumindest verschwägert sind?
Im Märchen oder Gedichten, nicht jedoch auf dem Boden, auf dem die Tatsachen liegen, gefallen sind, müde sich hinstrecken und Kraft verlieren; ihre Persönlichkeit aufgeben und sich vermischen zu einer bunten Masse Gefallener.
Dort hinein fällt das Blatt, schlägt hart auf, vermisst die Hand, sieht bunte Farben, fühlt anderer Schmerz.
Und ist doch allein.
Farbklecks auf einer Palette.
Im Herbst.